dagmar weiss

DAS FAHRRAD

Am Ende, ein paar Tage nach ihrer Rückkehr, erzählte sie es mir dann doch.
Sie saß an unserem Esstisch und rauchte, während ich das Geschirr abspülte, und starrte aus dem Küchenfenster. Es gab dort nicht wirklich etwas zu sehen, eine dicke Schicht Dreck verschleierte den Blick auf einen Flecken Himmel, ein paar Hausdächer und Baumkronen. Ich glaube nicht dass sie diesen Dingen Beachtung schenkte, sie schien vollkommen abwesend. Die Zigarette in ihrer Hand verwandelte sich nach und nach in einen langen zerbrechlichen Finger aus Asche, während sie regungslos da saß.

"Um ehrlich zu sein, es war schrecklich dort. Eigentlich die ganze Zeit über," sagte sie abrupt. Die Asche löste sich vom Zigarettenstummel und fiel aufs Tischtuch, als sie ruckhaft ihren Kopf zu mir wandte.

Ihrer Erzählung nach lag das Problem nicht am Alleine-Reisen. Sie hatte nichts dagegen alleine zu sein, ihr fehlte niemand, was ihr fehlte, war ein Ort zum Ausruhen. Sie war zwar ständig alleine, aber es gab nie die Gelegenheit, einfach für sich zu sein. Das Zimmer in der Herberge teilte sie mit neun Fremden, zu keiner Zeit fühlte sie sich dort wohl genug um sich länger aufzuhalten. Ähnlich ging es ihr mit der Herbergsküche, ein belebter und heiterer Gemeinschaftsraum, Treffpunkt für Reisende aus aller Welt.
Nur selten, am ganz frühen Morgen, wenn niemand anderes dort zu erwarten war, schlich sie sich eilig hinein um eine Tasse Tee zu kochen. Sie setzte sich nicht einmal, trank in hastigen Zügen und direkt anschließend huschte sie aus dem Haus. Für ihr Frühstück -für gewöhnlich ein paar Cracker und eine Banane aus dem Supermarkt- setzte sie sich auf eine Parkbank oder auf die Stufen am Fuße eines Denkmals. Manchmal, wenn es regnete, frühstückte sie in der U-Bahn; sie fuhr dann wahllos ein paar Stationen hin und und wieder zurück.
Im Anschluss versuchte sie ihre Tage so zu verbringen, dass sie auf keinen Fall vor dem späten Abend in die Herberge zurückkehrte. So dass sie sich nur noch unter die Dusche stellten musste, eine Weile mit geschlossenen Augen das heiße Wasser an sich herunter prasseln ließ und sich dann sofort in ihr Bett verkroch. Sie hatte dort nicht einmal Lust etwas zu lesen. Selbst wenn all ihre Bettnachbarn unterwegs waren und das Zimmer leer, konnte sie sich nicht entspannen, schon die Vorstellung und die Möglichkeit, dass sich jederzeit plötzlich die Tür öffnen und jemand eintreten könnte, ließen sie bei den kleinsten Geräuschen auf dem Gang oder von draußen zusammenzucken und nervös aufschauen.

Aber auch auf den Parkbänken war sie selbstverständlich nie alleine, genauso wenig wie in den Cafés, den Bibliotheken oder Museen, die sie besuchte. Beständig fremden Blicken ausgesetzt fing sie an sich beobachtet zu fühlen; beäugt und verfolgt von unzähligen abschätzigen und mitleidlosen Augenpaaren. Ein wachsendes Gefühl von Nichtzugehörigkeit klebte an ihr wie altes Kaugummi. Sie hatte keinerlei Berechtigung in dieser Stadt zu sein, es schien die Stadt selber - mit jedem einzelnen Haus, jedem Bürgersteig und jeder Straßenlaterne -, die mit kritisch gerunzelter Stirn all ihre Unternehmungen inspizierte.
Die meiste Zeit verbrachte sie damit herumzulaufen. Von einem Café zum nächsten oder auch ohne jegliches Ziel, eine Straße nach der anderen. Während sie lief, ging es ihr ein wenig besser, dann war sie zumindest in gewisser Weise beschäftigt. Auf diesen Wanderungen fühlte sie sich beruhigend unsichtbar, weil ihr zügiger Schritt den Eindruck erweckten konnte, einen Bestimmungsort zu haben.

Ich hatte während ihrer Erzählung weiter abgewaschen, nur ab und zu innegehalten, ein nasses Glas in meiner Hand, um mich zu ihr umzudrehen und sie anzuschauen. Sie schien mich gar nicht zu bemerken.
Mit einer Hand zwirbelte sie unaufhörlich eine lose Haarsträhne und ihr Blick wanderte genauso ruhelos kreuz- und quer durch unsere Küche wie die stundenlangen Wanderungen, die sie dabei beschrieb.
Ganz offensichtlich war sie tatsächlich unglaublich viel umhergelaufen, zumindest im Stadtkern. Ab und zu fragte ich sie nach einer Straße oder einem Platz, an den ich mich selber gut erinnerte, und sie wusste jedesmal sofort, von welcher Gegend ich sprach.

"Das Fahrrad hat mich echt gerettet", sagte sie. Sie hatte es auf dem Flohmarkt gefunden. Es war nicht besonders gut in Schuss, aber es fuhr und es kostete sie weniger als das, was sie nahezu täglich für die öffentlichen Verkehrsmittel ausgeben musste. Der alte Mann, dem sie es abkaufte sprach kein Wort Englisch, und sie musste mit Händen und Fingern um den Preis feilschen. Jedenfalls gelang es ihr das Rad zu erwerben und das änderte alles, und zwar grundlegend.
Das Fahrrad war vor langer Zeit einmal hellblau gewesen, aber das war kaum noch zu erkennen. Inzwischen war es nahezu vollständig verrostet, wodurch es den Anschein eines warmen braunen Farbtons erweckte. Es hatte wohl mal eine Gangschaltung gegeben, aber der Hebel klemmte und schalten konnte man nicht. Das Vorderrad eierte etwas, die Bremsen funktionierten nur mäßig und das Licht natürlich gar nicht, aber zumindest gab es ein funktionstüchtiges Fahrradschloss.

Von diesem Moment an eroberte sie die Stadt mit dem Rad. Plötzlich war sie nicht mehr diese deplatzierte Fremde, unsicher und heimatlos. Als Besitzerin eines Fahrrades gehörte sie dazu.
Die simple Routine das Fahrrad vor den Lokalen anzuschließen, bevor sie eintrat, verscheuchte das Gefühl dort fehl am Platz zu sein. Sie vermochte nun problemlos in die Kneipen zu gehen und dort bei einem Glas Wein den Abend mit Lesen oder Schreiben zu verbringen. Auch wenn sie natürlich weiterhin auf Englisch bestellen musste, sich also zwangsläufig als Ausländer erkennbar machte, hatte sie keine Angst mehr damit zur Last zu fallen.
Mit dem Fahrrad traute sie sich an jeder schönen schattigen Parkecke anzuhalten, um eine halbe Stunde im Gras zu dösen. Das Fahrrad lag dann neben ihr und schien sie wie ein treuer Wachhund zu beschützen.
Und mit dem Fahrrad genoss sie es, die Vororte der Stadt zu erkunden. Wenn sie nicht mehr wusste, wo sie sich befand, und den Stadtplan aus dem Rucksack kramen musste, wurde er ihr zum treuen Helfer; derselbe Stadtplan, der sie zuvor vor der Öffentlichkeit als Touristin denunziert hatte.

Ich zog den Stöpsel aus dem Spülbecken und sie hielt plötzlich in ihrer Erzählung inne. Nur das gurgelnde Geräusch des abfließenden Abwaschwassers füllte die unerwartete Stille. Ich nahm mir ein Handtuch und lehnte mich mit dem Rücken gegen die Spüle. Jetzt konnte ich sie anschauen, während ich begann abzutrocknen.
Sie schaute kurz zu mir auf, dann friemelte sie eine weitere Zigarette aus ihrer Packung. Doch anstatt sie anzuzünden, drehte sie sie vorsichtig zwischen ihren Fingern, als würde sie sie genau untersuchen, und fing dann wieder an zu sprechen.

Sie erzählte, dass es an der großen T-Kreuzung in der Nähe des Südbahnhofs passiert sei. Ich selber erinnerte mich deutlich an diese Kreuzung, da ich sie seinerzeit täglich auf meinem Weg ins Institut passierte. Ich fuhr damals immer mit der Straßenbahn Linie 6; aus Richtung des Stadtzentrums folgte die Bahn dort nicht weiter der stark befahrenen Hauptstraße, sondern bog nach rechts ab. Es gab eine Haltestelle direkt hinter der Kreuzung, aber ich musste erst ein paar Haltestellen später aussteigen, eine vor der Endstation.
Sie erzählte, es sei am frühen Nachmittag gewesen, an einem klaren, sonnigen Tag. Sie war froh an der frischen Luft zu sein und den Fahrtwind im Gesicht zu spüren. Sie trat kräftig in die Pedale und lauschte dem beruhigenden gleichmäßigen Surren der Reifen auf dem Asphalt.
Nach einem Ausflug an einen kleinen küstennahen Vorort befand sie sich auf dem Rückweg in die Innenstadt. Sie kam also aus der entgegengesetzten Richtung als ich damals mit der Straßenbahn und musste an der Kreuzung nach links abbiegen.
Während sie darauf zu fuhr, sah sie schon aus der Entfernung, wie die Ampel auf Rot umsprang. Da sie nicht warten wollte, entschloss sie sich die Straße schon ein Stück vorher, noch vor der Straßenbahnhaltestelle, zu überqueren, von dort einfach ein paar Meter auf dem linken Bürgersteig weiterzufahren, um an der Kreuzung ohne Halt abbiegen zu können.
Direkt vor der Haltestelle war ein Zebrastreifen und hinter ihr kein Auto in Sicht, also schwenkte sie nach links. Sie musste zuerst die rechte Spur überqueren, dann die Straßenbahnschienen und zuletzt die linke Spur der Straße. Alles war frei, soeben bog eine Straßenbahn von der Hauptstraße ab und auf sie zu, aber die musste an der Haltestelle anhalten. Leute würden ein- und aussteigen, das ließ ihr genug Zeit über die Schienen zu kommen.
Aufgrund der Straßenbahn konnte sie nicht sehen, wie das Auto von der Hauptstraße abbog. Vermutlich hatte der Fahrer versucht schnell noch bei gelb über die Ampel zu kommen, denn es erschien unerwartet mit hohem Tempo auf der linken Spur. Als sie es bemerkte, war es nur noch wenige Meter entfernt und sie wusste sofort, dass es zu spät war. Sie kannte den bedenklichen Zustand ihrer Fahrradbremsen und wusste genau, dass sie keine Chance hatte. Geistesgegenwärtig tat sie das einzig noch Mögliche: sie lenkte ruckartig nach links und so erwischte sie das Auto nicht frontal, sondern nur seitlich.
Merkwürdigerweise schien der Asphalt nicht einmal feindlich gesonnen, nur ein wenig hart, wie man es erwartet.
Sie rappelte sich langsam auf, tastend und unsicher und stand dann bloß da und schaute an sich selbst herunter. Erstaunt, dass sie stand und atmete.
Das Vorderrad des Fahrrades war so verbogen, dass man es kaum mehr als eine Acht bezeichnen konnte, und auch der Lenker war vollkommen deformiert. Es lag neben ihr wie ein leidendes zur Hälfte zerquetschtes Insekt, das jemand ohne vollen Erfolg versucht hatte zu zertreten.
Ein hilfsbereiter Passant berührte sanft ihren Ellbogen und führte sie hinüber auf den Gehsteig, wo der Autofahrer angehalten hatte und ausgestiegen war. Er begann auf sie einzureden, sichtlich schockiert und besorgt, und auch der Passant mischte sich ins Gespräch. Beide redeten hektisch in der seltsamen unbekannten Sprache auf sie ein und schienen ihr Fragen zu stellen.
Vollkommen im Unklaren über die dortigen Verkehrsregeln war in dem Moment ihre größte Angst womöglich verantwortlich zu sein, schuld an dem Unfall. Vor ihrem inneren Auge sah sie Beulen am Auto und Kratzer im Lack, während sie stur den Satz "I'm fine. Nothing happened to me, I'm OK," wiederholte, bis der Autofahrer schließlich wieder einstieg und davonfuhr und auch der Passant sich mit einem letzten besorgten Blick über die Schulter auf den Weg machte.
Als sie verschwunden waren, zerrte sie langsam das Fahrrad von der Straße, lehnte es gegen einen Laternenpfahl und schloss es aus Gewohnheit ordentlich an. Sie fühlte sich nicht fähig, sich zu einer Gruppe Wartender an die Straßenbahnhaltestelle zu gesellen, also ging sie einfach los, zu Fuß. Ihre Beine fühlten sich an wie Spagetti und sie spürte einen dumpfen Schmerz in ihrer gesamten rechten Körperhälfte, vor allem am Ellbogen und an der Hüfte. Am Handballen brannte die aufgeschürfte Haut, aber sie schaute nicht nach den Verletzungen. Ganz langsam, Schritt für Schritt lief sie, wie automatisiert. Sie lief den gesamten Weg bis ins Stadtzentrum, aber nicht zur Herberge, sondern genau, wie es zuvor geplant gewesen war, zum historischen Museum, das sie noch nicht besucht hatte.
"Mir ist nichts passiert," dachte sie. "Wenn ich es niemandem erzähle, ist gar nichts passiert."
Noch am selben Tag schrieb sie eine Postkarte an ihre Eltern mit ein paar belanglosen Einzelheiten ihres Ausflugs und eine kurze Mail an mich, in der stand, dass sie ein wenig Heimweh habe.
Ihr Rückflug ging ein paar Tage später, und sie war erleichtert die Stadt zu verlassen. Wann immer die Leute sie nach der Zeit dort fragten, antwortete sie, es wär schon ganz in Ordnung gewesen. Eventuell erzählte sie noch das ein oder andere bemerkenswerte Detail über Plätze, an denen sie gewesen war, und Dinge, die sie gesehen hatte.

Ich stand immer noch auf demselben Platz neben der Spüle, in der einen Hand das Spültuch, in der anderen ein vergessener, feuchter Teller. Jetzt sah sie mich direkt an, aber ich war unfähig in ihren Augen lesen. Ein zaghaftes lächeln schien um ihre Mundwinkel zu spielen, aber es verdeckte eine andere Regung. Sie zündete die Zigarette an, die sie den gesamten Bericht über in den Händen gedreht und gewendet hatte, nahm einen Zug und fing an zu weinen.