DIE FRAGE
Wir waren Kaffee trinken, in einem einfachen Restaurant an einem schattigen und relativ ruhigen kleinen Platz. Abgesehen von uns gab es zu dieser Tageszeit nicht viele Gäste, wir suchten uns einen Tisch draußen auf der Veranda, in der Luft lag noch ein Hauch Kühle, der einzige Überrest von Nacht in der durchdringenden Tageswirklichkeit.
Du saßt auf dem Eckplatz mir gegenüber, direkt hinter dir ein von Staub nahezu blind gewordenes Fenster nach drinnen, durch das man das leere Lokal eher ahnen als sehen konnte.
Von den anderen Gästen auf der Veranda drangen nur beiläufig verwischte Satzfragmente in mein Bewusstsein, versetzt mit Geräuschfetzen, die von der Straße hinüber wehten. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich kurz einen Blick auf den Kellner, der den Nebentisch abwischte.
Doch tatsächlich nahm ich nur die schmale Ecke wahr, in der du saßt, ich beachtete nur dich, ich sah dich ganz genau.
Einige unstete Flecken Morgensonnenlicht drangen zwischen den ausladenden Blättern der Platanen auf dem Platz bis zu uns hindurch, wurden von der milchigen Fensterscheibe reflektiert und spielten auf deinen Schultern und auf der Haut deiner Arme, die du auf den Tisch gestützt hattest.
Der Wind zauste vorsichtig und kaum merklich durch die feinen Härchen auf deinen Handrücken, so dass sie in den Lichtflecken glitzerten. Deine Hände strichen rastlos in unergründlichen Mustern über die klebrige, karierte Plastiktischdecke, als hätten sie ein eigenes Leben. Nur manchmal, wenn du kurz innegehalten hast, ist dein Blick heruntergefallen, er fiel dann auf deine Hände und sie lagen ganz still.
Es kam auch vor, dass du den Kopf ein wenig nach links gedreht hast , wo ein überwuchertes Mäuerchen die Veranda zur Seitenstraße hin begrenzte und die Sicht versperrte. Du schienst dann für einen Moment in die Betrachtung der wild rankenden Blätter versunken und hattest, wie mir schien, einen Hauch von Lächeln um deine Mundwinkel.
Die meiste Zeit jedoch hattest du dein Gesicht mir zugewandt.
Du hast gesprochen - beinahe durchgehend hast du gesprochen - und du hast deine Worte gerade an mich gerichtet. Du hast mich dabei konzentriert angeschaut, als würde dein Mund die Worte und Sätze nur aussprechen, aber es deinen Augen überlassen, sie aufzugreifen und mir hinüberzureichen.
Du hast hauptsächlich gesprochen, mit deinem Mund und deinen Augen und deiner ganzen Anwesenheit, und ich, ich habe mit meinem gesamten Bestreben geschaut.
Ich muss zugeben, dass ich deswegen kaum mehr weiß, was du erzählt hast, aber ich sehe alles noch immer in aller Deutlichkeit vor mir. Ich sehe noch scharf und klar all die kleinen Schmutzpartikel und Krumen, die aus den Bäumen auf die Tischdecke gefallen waren und wie sie sich unter der steten Bewegung deiner Hände aus ihrer zufälligen Regelmäßigkeit zu wechselnd neuen Linien und Mustern formierten. Ich habe die verräterische zerknitterte Stelle rechts am Halsausschnitt deines T-Shirts vor Augen, deren stille Indiskretion mich verleitete kurz darüber nachzudenken, ob du darin geschlafen hattest. So wie die lose Haarsträhne neben deinem linken Ohr, sanft in Bewegung mit dem Wind, schon vom Zuschauen hatte ich das Gefühl, sie würde mein eigenes Ohrläppchen kitzeln, und hätte sie am liebsten weggestrichen. In allen Details sah ich die winzigen Linien und Unregelmäßigkeiten deiner Haut, trotz der frisch rasierten Glätte konnte ich sogar die Bartwurzeln unter der Haut hindurch schimmern sehen, ungeduldig und sachte drängend in Erwartung zu frischen Stoppeln zu werden.
Du redetest und ich rutschte immer weiter nach vorne auf meine Stuhlkante und lehnte mich immer weiter über den Tisch dir entgegen, um deinen Anblick noch genauer in mich dringen zu lassen.
In schmerzlicher Deutlichkeit sah ich die elegante Biegung jeder einzelnen deiner Wimpern, und wie sich die oberen Wimpern mit den unteren verhakten, wenn du blinzeltest, ein paar von ihnen in den Augenwinkeln blieben danach ineinander verschränkt.
Ich beugte mich näher und schaute immer genauer auf der Suche nach irgendetwas, irgendeinem winzigen Detail, das mir verraten - oder eher bestätigen - würde, was ich doch die gesamte Zeit über wusste; ich hielt Ausschau, nach einem Fehler, nach einer Ungenauigkeit, aber je genauer ich schaute, desto deutlicher und wirklicher sah ich alles, die millimeterkleinen ruckenden Bewegungen deiner Pupillen, während du redetest, und all die unterschiedlichen Farbstiche und Helligkeiten, die im dunklen Grau deiner Iris aufblitzten, wenn das Licht hineinfiel. Selbst wenn du mir irgendwoher bekannt und vertraut gewesen wärst, hätte ich niemals all das, was ich sehen konnte, in dieser Präzision aus meiner Erinnerung rekonstruieren können. Es war, als wäre es möglich einfach die Hand auszustrecken und mit den Fingerspitzen deine Haut zu berühren, die ich so klar sehen konnte durch die durchsichtige Luft, so nah und genau wie meine eigenen Hände vor mir auf der Tischdecke.
Es war mir vollkommen unverständlich, wie es sein konnte, dass mein Blick so genau den Bewegungen deines Mundes folgen konnte, während du deine Worte formtest, deine Lippen waren trocken und an den Mundwinkeln klebte eine winzige Kruste, wenn du den Mund sehr weit aufgemacht hättest, wäre sie zerbrochen, und die dünne Haut darunter hätte einreißen können.
Ich schaute auf deinen Mund und ich traute meinen Augen - traute ihnen kaum, denn ich wusste es wohl besser - aber doch genug, um dich schließlich zu unterbrechen, mitten im Satz,
ich sagte: "warte mal,
warte mal kurz,"-
aber ich schaffte es nicht, ich konnte meine Frage nicht mehr stellen. Bevor ich dich fragen konnte, ob du womöglich doch ganz und gar echt, so real wie ich selber bist, wachte ich auf.