dagmar weiss

WIE MAN VIELLEICHT DIE WAHRHEIT SAGEN KANN. (für Christine Gensheimer)

Ganz sicher ist das gar nicht so einfach. Denn mit der Wahrheit ist es so eine Sache: Es gibt davon, wie man sagt, durchaus mehrere, die sich womöglich sogar widersprechen. Das wiederum widerspricht nun dem Konzept der Wahrheit an sich und hört sich eher so an, als gäbe es gar keine Wahrheit.
Natürlich ist es nicht so ungemein schwierig, eine Aussage zu treffen, die nicht falsch ist. Man könnte sagen: das Bild ist eine Zeichnung.
Eventuell hat man damit zumindest schon mal nicht gelogen. Aber selbst wenn es also wahr ist, ist das denn die Wahrheit?
Von der Wahrheit erwartet man doch ein bisschen mehr als das Offensichtliche. Niemanden interessieren und keiner braucht diese Art von ungelogenen Belanglosigkeiten.
Was ich meine, ist die richtige Wahrheit. Die, die einen womöglich instinktiv kurz den Atem anhalten lässt, so dass man das Blut in den Adern rauschen hört und sofort ganz und gar wach ist, weil sie so exakt auf den Punkt, so ganz genau wahr ist. Die, die einen trifft und überwältigt und vor dem Untergehen bewahrt.
Wenn schon Wahrheit, dann bitte sehr im altmodischen, bedeutungsschwangeren Sinne des Wortes, ohne verlegene Angst vor potentieller Peinlichkeit und Pathos. Die Wahrheit ist nicht nur wahr, sondern etwas Dringliches, sie ist wichtig.

Und das macht die Sache kompliziert: der Versuch, jetzt also etwas wirklich bedeutsames vom Stapel zu lassen, muss nahezu zwangsläufig in die Hose gehen. Tatsächlich wichtig ist es ja nur, wenn es das auch für ausreichend andere Leute ist, und schon ist da wieder das Problem mit den vielen Wahrheiten. Wer weiß, was wichtig - und dazu noch richtig - ist für all die anderen. Und im schlimmsten Fall versucht man am Ende nur etwas zu sagen, das von möglichst vielen für wichtig gehalten wird, und dann oder genau dadurch ist es nicht einmal mehr wahr, geschweige denn die Wahrheit.
Ich habe den Verdacht, dass man die Wahrheit nur zufällig sagen kann. Nämlich dann, wenn man es gar nicht erst versucht. Sie könnte in einem Nebensatz rausrutschen oder zwischen den Zeilen, wenn es gerade um etwas ganz anderes geht. Beiläufig, quasi.
Das hört sich jetzt beinahe schon wieder einfach an, aber passiert trotzdem nur ungemein selten.
Denn die Voraussetzung ist - und das ist keinesfalls einfach -, dass das, was man sagt, aus tiefstem Herzen und kompromisslos ehrlich ist, in jeder Hinsicht.
Zielgerichtetes, Zweckmäßiges fällt schon mal nicht darunter.
Alles, was gesagt wird, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken oder eine gewisse Wirkung zu erzielen, und das werden ja nun mal die meisten Dinge, mag gut und gerne plausibel, geistreich und eloquent sein. Unzweifelhaft kann es durchaus auch seine Richtigkeit haben, aber die Wahrheit sagt man auf diese Art und Weise bestimmt nicht.
Der einzige von Grund auf ehrliche Anlass etwas zu sagen ist das reine Bedürfnis, genau das und nichts anderes auszudrücken, weil es gesagt werden muss. Weil es einem auf der Zunge brennt oder unter den Fingernägeln juckt. Weil es einem auf dem Herzen liegt, wie man sagt, und gleichzeitig am Herzen. Dann, aber auch dann nur vielleicht, könnte das, was man sagt, die Wahrheit sein und verdienen, so genannt zu werden.
Die auf diese Art gesagte Wahrheit muss gar nicht so besonders wirken. Sie ist ziemlich bescheiden und ein kleines bisschen schüchtern. Die Wahrheit verschafft sich nicht lautstark Gehör, um der ganzen Welt auf die Nase zu binden, was Sache ist. Sie braucht keine großen Themen oder Gesten, um sich in Szene zu setzen, genau das vermeidet sie eher.
Auf dem Präsentierteller zu stehen ist ihr zuwider, oft hält sie sich zwischen Persönlichem, Privatem auf, scheint sich beinahe dazwischen zu verstecken. Auf den ersten Blick sieht sie recht alltäglich aus. Aber hinter einem leisen verschmitzten Lächeln, das gar nicht im Widerspruch zu einer darunter liegenden Traurigkeit steht, ist sie deutlich und klar erkennbar: die feinen Details ihrer scharfen Beobachtungen verraten sie und lassen sie aus all dem Gerede hervorstechen.
Natürlich könnte man fragen, wozu brauchen wir denn überhaupt die Wahrheit? Wäre es nicht am Ende besser, es gäbe sie gar nicht und wir ließen das problematische Wort lieber irgendwo unten in der Schublade liegen? Oder verwendeten es nur im Sinne dieser vielen Wahrheiten, eben eine von vielen, jaja, soso, ach echt, wie nett.
Aber das Großartige an der Wahrheit, an dieser, der ehrlichen, bedeutsamen, richtigen Wahrheit, ist,
dass man dann weiß - wenn man ihr begegnet -, dass man nicht alleine ist. Denn jemand, ein anderer, hat sie genauso gesehen und war sogar dazu noch fähig, sie zu sagen.


Erschienen als Katalogtext zu Christine Gensheimers Arbeiten der Ausstellung Compilation IV der Kunsthalle Düsseldorf;

Dumont 2009; ISBN 978-3-8321-9236-5